Neue Zürcher Zeitung
Das Geheimnis des Melkplans
Kerstin Ekmans Krimi «Geschehnisse am Wasser»

Das Leben, wie es Kerstin Ekman in ihrem Roman «Geschehnisse am Wasser» schildert, ist ein langer, ruhiger Fluss voller Einsamkeit und Melancholie, aber auch voller gewaltsamer Strudel, die sich unter der stillen Oberfläche verbergen. Die Menschen mögen, wenn es gut geht, an den Strudeln vorbeigleiten; aber sie treiben, ob sie wollen oder nicht, mit dem Fluss, und jeder Versuch, innezuhalten und nachzudenken oder gegen den Strom zu schwimmen, kostet sie enorme Kraft und führt äusserstenfalls dazu, dass sie in einem Nebenarm landen, um dort in Richtung des Hauptstromes weiterzutreiben.

Dabei beginnt der Roman recht schwungvoll mit scheinbar gegenläufigen Bewegungen: In der Mittsommernacht des Jahres 1973 kreuzen sich die Wege zweier Menschen, die ein neues Leben anfangen wollen. Die Musiklehrerin Annie Raft hat ihre Arbeit und die Stadt verlassen, um mit ihrer Tochter zu ihrem Freund in eine Landkommune in der Nähe des Dorfes Svartvattnet zu ziehen. Umgekehrt verlässt der sechzehnjährige Johann Brandberg das Dorf, um dem dumpfen, rohen, von Gewalt bestimmten Leben seines Vaters und seiner vier Halbbrüder zu entkommen. Annie sieht ihn, als er nachts durchs Moor wandert; kurz darauf entdeckt sie ganz in der Nähe in einem Zelt am Fluss ein Touristenpaar, das ermordet wurde. Das Gesicht des zufällig getroffenen Jungen prägt sich Annie als das des Mörders ein.

Im zweiten Teil des Romans, der 18 Jahre später einsetzt, erkennt Annie Johann in dem neuen Freund ihrer Tochter Mia wieder. Bald darauf findet man Annie tot im Fluss. Die Polizei vermutet einen Unfall. Johann, der, wie der Leser ziemlich sicher weiss, nicht der Täter ist, und Birger Torbjörnsson, Annies Lebenspartner, machen sich gemeinsam an die Aufklärung des alten Doppelmords und des neuen Todesfalls.

Ruhe und Ausführlichkeit

Soweit der Abriss der Romanhandlung. Was er nicht wiedergibt, ist die Ruhe und Ausführlichkeit, mit der Ekman die Lebensumstände, Gedanken und Gefühle ihrer Figuren beschreibt. Bekannt wurde die schwedische Autorin bei uns durch eine Romantetralogie über die historische Entwicklung einer schwedischen Ortschaft, die für ihren Detailrealismus viel Lob erhielt. Begonnen hat sie ihre literarische Laufbahn jedoch in den sechziger Jahren mit dem Schreiben von Krimis. Beide Fähigkeiten verbinden sich in «Geschehnisse am Wasser» auf eindrucksvolle Weise.

Zwar konzentriert sich erst der zweite Teil auf die Aufklärung der Verbrechen, während im ersten Charakter und Beziehungen der Figuren im Vordergrund stehen; aber schon hier wimmelt es von Indizien, die entweder zur Lösung des Krimirätsels beitragen oder aber den Leser auf eine falsche Fährte locken. Ekman verwendet dazu Gegenstände, die sich nahtlos in ihre Lebens- und Landschaftsbeschreibungen einfügen: ein Zelt, Stiefel, Kondome, Pulvertütchen, ein Moped, ein altes Auto, ein Melkplan, eine Telefonnummer, zwei tiefgefrorene Auerhähne, ungerupft, und ein Jagdfalke, freifliegend. An diese alltäglichen Kleinigkeiten knüpfen sich Geschichten, die in der Auflösung am Ende überraschend, doch plausibel ineinandergreifen.

Die gegenläufigen Bewegungen Annie Rafts und Johann Brandbergs versinnbildlichen einen zentralen Konflikt des Romans. Während die Aussteiger in der Landkommune, in die Annie vorübergehend zieht, sich von der modernen Welt abwenden und auf dem Lande «Natur» und «Ursprünglichkeit» suchen, wünschen sich die ursprünglichen Bewohner des Dorfes nichts sehnlicher, als ihrem grauen Leben zu entfliehen und am «Fortschritt» teilzuhaben. Die Dörfler sind spiessig und verschlossen, aber auch die Beziehungen in der Landkommune entpuppen sich für Annie als ebenso brüchig und funktional wie in der übrigen Gesellschaft.

Das Idyll – eine Illusion

Indem Johann sich aus der Enge des Dorflebens befreit und Meteorologe wird, schwimmt er mit dem grossen Strom der modernen Zivilisation. Annie dagegen macht die Erfahrung, dass das ländliche Idyll, dieses beliebte Gegenbild zur Moderne, eine Illusion ist. Ihre Flucht aus der Stadt stellt insofern keine wirkliche Gegenbewegung dar. Der Roman erzählt über weite Strecken aus dem Blickwinkel von Leuten wie Annie oder dem Arzt Birger Torbjörnsson, die sich in der Moderne nicht zu Hause fühlen, aber auch an keinem anderen Ort, weil es für sie keine lebbaren Alternativen mehr gibt. Aus dieser Heimatlosigkeit erklärt sich die melancholische Grundstimmung des Romans. Die Figuren schliessen sich in einem «inneren Raum» ein und geben sich, Gefangene ihrer Ein- oder Zweisamkeit, dem Weltschmerz hin. Von Birger, dem Inbegriff des Melancholikers, sagt Annies Tochter Mia einmal, er sei «wie ein alter, nasser Schwamm». Solch erfrischende Sätze sind jedoch selten in dem Roman, wie er überhaupt die Möglichkeiten, in der modernen Zivilisation guter Dinge zu sein, nicht ernsthaft auslotet. Lebenstüchtige Gegenfiguren wie Mia bleiben blass, und ihre Haltung unterliegt sogleich dem Verdacht, nicht «echt» zu sein.

Damit sollen die literarischen Qualitäten dieses Krimis nicht bestritten werden. Dass er verschiedene skandinavische Literaturpreise gewonnen hat, ist durchaus nachzuvollziehen. Andererseits werden von einem Roman, bei dessen Lektüre sich die Metapher vom unausweichlichen Fluss des Lebens aufdrängt, am Ende des 20. Jahrhunderts kaum neue Impulse ausgehen können.

Lutz Krützfeldt

Released on Monday, November 15, 2004 at about 9:00:00 AM BX time (GMT-06:00) Central Time (US & Canada) at AKK e. V. AK Kultur und Kommunikation, Unigelände in Karlsruhe, Baden-Württemberg Germany.

RELEASE NOTES:

im OBCZ-Regal neben der Theke

hab das ganze buch auf einer total langweiligen party entdeckt...
wenn ich es gelesen habe, werde ich es auch sicherlich zurückbringen.

CAUGHT IN KARLSRUHE BADEN-WÜRTTEMBERG DEUTSCHLAND